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Cogitationes Philippinorum: Philipp von Hessen - Renaissancefürst und Reformator
18.10.2025

Cogitationes Philippinorum: Philipp von Hessen - Renaissancefürst und Reformator

Ein Gastbeitrag von Volker Leppin (Professor für Kirchengeschichte mit Schwerpunkt in Mittelalter und Reformation, Yale University, USA) 

 

In meiner Schulzeit habe ich nicht von jener Episode aus dem Leben Philipps von Hessen gehört, auf die ich unter Reformationshistoriker:innen immer wieder angesprochen werde, wenn ich erwähne, dass ich das Gymnasium Philippinum besucht habe: die sogenannte Bigamieaffaire.

Philipp, seit 1523 mit Christine von Sachsen verheiratet, hatte seine Ehefrau mehrfach betrogen. Als er sich aber 1539 die siebzehnjährige Margarethe von der Saale als neues Objekt seiner Libido aussuchte, schob deren Mutter dem einen Riegel vor: kein Sex ohne Ehe. Philipp blieb hartnäckig, wollte aber seinen politischen Vorteil nicht verspielen: Von seiner Frau konnte er sich schlecht trennen – so wie es ein anderer bekannter Fürst der Zeit, Heinrich VIII. zweimal getan hat. Philipp wollte sich reichspolitisch nicht das Wohlwollen ihrer sächsischen Familie verscherzen, die über einen viel angeseheneren Status verfügte als die hessische Herrschaft. Also brachte er die Wittenberger Reformatoren rund um Luther dazu, ihm ein Gutachten zu schreiben, das ihm erlaubte, eine zweite Ehe neben der ersten Ehe einzugehen. Nach weltlichem und kirchlichem Recht war dies Bigamie und verboten. Die Reformatoren aber schrieben, so formulierten sie es ausdrücklich, eine „dispensation.“ Das war eine Anmaßung. Bislang hatten die päpstlichen Behörden immer wieder – und meist gegen gutes Geld – Dispense, Befreiungen von Rechtsvorschriften in Ehesachen, erteilt. Sie fielen nun natürlich aus, und die Wittenberger Reformatoren setzten sich an ihre Stelle. Das war kein Ruhmesblatt in der Reformationsgeschichte, und gerne wird dieser Vorgang damit bemäntelt, dass man diesen Rechtsentscheid einen „Beichtrat“ nennt. Das klingt netter und irgendwie theologischer. An die Beichte erinnert aber nur, dass die Reformatoren ihre Stellungnahme geheim halten wollten. Das Beichtgeheimnis soll üblicherweise den Beichtenden schützen, dessen Sünden nicht bekannt werden sollen. Hier aber diente es der Verheimlichung des freihändigen Umgangs der Reformatoren mit Recht und Moral. Philipp war zufrieden – und auf seine Weise war es Luther auch: im Mai 1540, wenige Monate nach Abfassung des Dispenses, konnte er sich bei Philipp für einen Fuder Wein bedanken (WA.B 9, Nr. 3483). Guter Lohn für einen schlechten Rat. Philipp hatte sich mit der Bigamie eines Verbrechens schuldig gemacht, auf das nach der Strafgerichtsordnung des Reiches die Todesstrafe stand – und der Kaiser konnte ihn so in den Auseinandersetzungen um die Reformation zurückdrängen.

Die moderne Forschung hat allerdings herausgearbeitet, dass Philipp genau genommen schon vor seiner zweiten Ehe angefangen hatte, sich auf einen Separatfrieden mit Kaiser Karl V. einzulassen – das ist nur eine weitere Pointe, die Licht auf diesen faszinierenden, aber auch hochproblematischen Landgrafen wirft. Die gesamte Episode der Bigamie, die man seit dem 19. Jahrhundert oft mit schlüpfrigem Unterton erzählt hat, die aber in Zeiten von MeToo vor allem als anschauliche Erzählung von einem Mann, der seine Machtposition zum Ausleben seiner sexuellen Gelüste nutzte, erscheint, lässt kaleidoskopartig etwas von Philipp von Hessen in seiner Zeit erkennen. Er ist der Renaissancefürst, der Machterhalt und eigenes Vergnügen ausbalanciert – und er ist der Reformationsfürst, der sich von den alten kirchlichen Autoritäten abgewandt und neuen zugewandt hat.

Die Eheschließung mit Christine von Sachsen bedeutete für den Landgrafen von Hessen eine Anerkennung durch das angesehene Geschlecht der Wettiner, und zwar dem albertinischen Zweig. Mit der damals höherrangigen kurfürstlichen ernestinischen Linie der Familie, sollte er dann gemeinsam die Reformation voranbringen. Dass Philipp neben dem sächsischen Kurfürsten Hauptmann des 1531 gegründeten Schmalkaldischen Bundes wurde, diente nicht nur, wie es erklärte Aufgabe dieses Bundes war, der Verteidigung der Reformation. Es half auch der Reputation Hessens und seiner Etablierung als einer der wichtigsten Kräfte des Reiches – bis die militärische Niederlage gegen den Kaiser und seine Verbündeten im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 und eine zeitweilige Gefangenschaft Philipps seinen Stern zum Sinken brachte. Dass seine Herrschaft später unter seinen Söhnen verteilt wurde, schwächte die Position Hessens weiter, so dass bald zerronnen war, was Philipp gewonnen hatte.

Man kann auch sagen, dass er in der zweiten Hälfte seiner langen Regierungszeit weit weniger glücklich agierte als in der ersten. 1518 war er mit noch nicht vierzehn Jahren für volljährig erklärt worden und regierte von da an fast ein halbes Jahrhundert lang bis zu seinem Tod am 31. März 1567. Im Blick auf Religion und Kirche hätte man kaum stürmischere Zeiten erleben können. Nur drei Jahre nach Regierungsantritt nahm er am Reichstag von Worms teil, auf dem Martin Luther der Legende nach die markigen Worte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ gesprochen hat. Tatsächlich hat der Wittenberger Reformator sich wohl vorsichtiger und frömmer geäußert: „Gott helfe mir. Amen.“

Philipp wurde nach diesem Reichstag, in dessen Folge Luther unter Reichsacht gesetzt wurde, nicht gleich ein glühender Anhänger der Reformation. Zu seiner Haltung als Renaissancefürst gehörte aber, dass er einen Blick auf mögliche finanzielle Umstrukturierungen geworfen hatte. So konnte es für den Landeshaushalt nützlich sein, den Besitz der reichen Klöster einzuheimsen. Die Reformation eröffnete hier günstige Wege. Man würde Philipp jedoch unterschätzen – und unangemessen modernisieren –, wollte man sein Handeln allein im Stile einer Art Kosten-Nutzen-Abwägung beschreiben, in dem Sinne, dass er sich der Reformation zugewandt hätte, weil das eben praktischer für ihn war.

Das war sicher ein Teil seiner Überlegungen. Ein anderer Teil aber war der, dass er wirklich wissen wollte, worum es eigentlich in der Reformatorischen Theologie ging. Im Jahre 1524 traf er sich nahe Frankfurt mit Luthers Weggefährten Philipp Melanchthon und ließ sich offenbar über die Anliegen der neuen Bewegung informieren. Das Gespräch reichte beiden Seiten nicht, und Melanchthon versprach, die Grundlehren der Evangelischen in einer kleinen Schrift zusammenfassen. Tatsächlich verfasste er diese im November desselben Jahres. Kurz und knapp erklärte der gelehrte Mann darin, was es aus evangelischer Sicht mit der Gerechtigkeit auf sich hat, die von Gott geschenkt wird, und wie unangemessen es wäre, die Glaubenden in Heilsfragen durch Menschensatzungen statt allein der biblischen Nachricht binden zu wollen. Man findet selten auf so knappem Raum die Zusammenfassung nicht nur der reformatorischen Botschaft von der Rechtfertigung, sondern auch ihrer Umgestaltung in kirchenrechtlich relevantes Handeln. Die ganze Schrift war eine Art reformatorisches Regierungsprogramm in nuce – und sie dürfte Philipp von Hesen geholfen haben, seine eigenen Schritte im Sinne einer Reformation zu gehen.

Das tat er recht rasch, und, wie Gury Schneider-Ludorff gezeigt hat, auf eine eigenständig hessische Weise: Er ahmte nicht einfach das Modell Sachsens nach, sondern entwickelte die schon im späten Mittelalter zu beobachtenden Bestrebungen der hessischen Landgrafschaft um Eigenständigkeit gegenüber den kirchlichen Behörden fort. Er ging sogar so weit, dass er sich im Jahre 1528 vom Erzbischof von Mainz im Vertrag von Hitzkirchen die geistliche Oberherrschaft über sein Territorium übertragen ließ. Bislang hatten sich das kirchliche Recht in der Hand der Bischöfe und das weltliche der Fürsten stets überlappt, und es war immer wieder zu Konkurrenzen gekommen. Philipp gelang es, beides in seiner Hand zu vereinen, und dafür die Zustimmung des Bischofs selbst zu erhalten. Dieser Anspruch, als Landesherr die Kirche zu leiten, entsprang nicht einem revolutionären Akt, sondern folgte rechtlichen Regeln innerhalb des überkommenen Systems – nur um daraus ein neues zu schaffen: die fürstlich geleitete Landeskirche.

Zu dem Zeitpunkt hatte Philipp allerdings auch schon weitere Unsicherheiten des mittelalterlichen Systems, in dem nicht alles so eindeutig geregelt war, wie man im Nachhinein annehmen möchte, für seinen Maßnahmen genutzt. 1527 hatte er die Marburger Universität – und in ihrem Zusammenhang das Pädagogium, aus dem das heutige Gymnasium Philippinum hervorgegangen ist – gegründet. Und zwar ohne päpstliches Privileg. So etwas hatte es vorher durchaus schon gegeben. Auch die Wittenberger Universität hatte ihren Lehrbetrieb 1502 aufgenommen, ehe der Papst eine Bewilligung ausgesprochen hatte. Das war aber kein Akt des Ungehorsams, sondern Teil eines Hin und Her zwischen den Instanzen, das niemanden so recht aufregen konnte. Die bewusst reformatorische Gründung Marburg jedoch konnte mit einer päpstlichen Bewilligung schon nicht mehr rechnen – und bekam auch das kaiserliche Privileg erst sehr viel später: im Jahr 1542. Philipp gründete seine Bildungsinstitutionen gewissermaßen „ins Blaue“ hinein. Es hätte auch alles ziemlich schiefgehen können. Dass eine Fünfhundertjahresfeier möglich würde, war keineswegs absehbar. Es war alles ein großes Wagnis, und doch zugleich, gerade im Zusammenspiel von Universität, Pädagogium und der zwei Jahre später gegründeten Stipendiatenanstalt, die die Besten des Landes an diese Institutionen heranziehen sollte, hervorragend durchdacht.

Sich auf Bildung zu konzentrieren, war ein Teil des humanistischen Programms der Renaissancefürsten. Eine Landesuniversität zu schaffen, war Ausdruck des Prestiges eines Fürsten. Philipp leistete all dies, und er stellte es in den Dienst der Reformation. Sie bedeutete für ihn nicht nur Macht, sondern auch und vor allem Freiheit: Freiheit, das göttliche Wort umzusetzen. Philipp war zutiefst überzeugt, dass die Idee des Sola scriptura, „die Schrift allein“, die die Reformatoren entwickelten, zu Klarheit und Einfachheit führen würde. Um so erschütterter war er, als sich seit Mitte der zwanziger Jahre – der Landgraf war selbst erst Anfang zwanzig! – Martin Luther mit dem Zürcher Reformator Huldrych Zwingli über die Lehre vom Abendmahl zerstritt. Während der eine, in Wittenberg, darauf beharrte, dass Jesus Christus in einer Weise im Abendmahl gegenwärtig sei, die an den Elementen Brot und Wein hing, griff man in der Schweiz der Gedanke auf, dass diese Elemente lediglich auf den im Himmel regierenden Christus verwiesen. Der Streit gefährdete nicht allein die religiöse Einheit, sondern auch die politische. Beides alarmierte den jungen Landgrafen – und so lud er die Kontrahenten nach Marburg zu dem berühmten Religionsgespräch von 1529 ein. Liest man die Berichte über diese Begegnung, so ist schnell zu spüren, dass Zwingli gesprächsbereit und kompromissorientiert war, während Luther in dieser Frage keinen Ausgleich dulden wollte und nach seinen Voraussetzungen auch nicht konnte. Das dürfte dazu beigetragen haben, dass Philipps Sympathien weit mehr bei dem Schweizer lagen als bei dem Sachsen. Tief bewegt versuchte er beide zur Einheit zu bewegen, musste aber bald erkennen, dass das mit Luther nicht zu machen war. Und so blieb es auch, als im folgenden Jahr, als die überwiegende Zahl der reformatorischen Stände des Reiches auf dem Augsburger Reichstag gemeinsam ihr Bekenntnis, die Confessio Augustana vorlegte. Philipps theologische und politische Mittellinie hatte keinen Erfolg – und es kam zu jener oben erwähnten Gründung des Schmalkaldischen Bundes.

Philipp blieb an den theologischen Fragen der Reformation interessiert, hat später entstehende Kompromisstexte wie das Regensburger Buch gründlich studiert und kommentiert. Aber er wurde immer mehr zu einem Anführer der nun sächsisch-hessischen Partei. Das trug zu der enormen Ausbreitung der Reformation in den dreißiger Jahren bei. Noch sind wir in jener erfolgreichen ersten Hälfte der Regierungszeit Philipps. Ab den späten dreißiger Jahren aber verließ ihn politisches Glück und wohl auch politisches Gespür – und doch gelang es ihm, aus der Gefangenschaft in die Regentschaft zurückzukehren. Unter allen Reformationsfürsten war es ausgerechnet er, der dazu beitragen sollte, die Konfessionen nach den stürmischen Jahren der Reformation in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts struturiert zu etablieren. Als er 1567 starb, war jedenfalls die Reformation als solche nicht mehr in Frage gestellt.

Wenn man von Erfolgen sprechen will, so war dies gewiss der größte Erfolg Philipps: die Reformation einzuführen und zu konsolidieren, nicht nur in Hessen, sondern auch im Reich insgesamt. Strukturen, die er geschaffen hat, Universität, Schule, auch die Hospitäler in Haina und andernorts, gaben der Landgrafschaft ein modernes Gesicht. Doch taugt er nicht zur Glorifizierung. Zu den Zügen seiner Herrschaft und Person gehört auch Skrupellosigkeit und radikaler Machtwille. Das Gymnasium Philippinum trägt seinen Namen. Dafür gibt es gute Gründe. Abes es gäbe im anstehenden Schuljubiläum auch mindestens ebenso gute, neben sein Gedächtnis das der Christine von Sachsen und der Margarethe von der Saale zu stellen, die er begehrt, benutzt und an den Rand gedrängt hat. Die Bigamieaffaire nicht nur zu verschweigen ist der erste Schritt. Sie aus der Perspektive der beiden Frauen zu erzählen, wäre der nächste.

 

 

Titelbild: Volker Leppin (Fotografin: Daniela Wagner)

Bild des Beitrags: Philippstein im Kloster Haina (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_I._(Hessen))

Literaturhinweise: Ursula Braasch-Schwersmann, Hans Schneider, Wilhelm Ernst Winterhager (Hg.), Landgraf Philipp der Großmütige. 1504-1567. Hessen im Zentrum der Reform. Begleitband zu einer Ausstellung des Landes Hessen, Marburg/ Neustadt a. d. Aisch 2004; Gury Schneider-Ludorff, Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim, Leipzig 2006.

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