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Cogitationes Philippinorum: Kann bzw. muss Schule die Demokratie retten?
24.06.2025

Cogitationes Philippinorum: Kann bzw. muss Schule die Demokratie retten?

Ein Gastbeitrag von Ingrid Arndt-Brauer

 

Die etwas provokante Frage in der Überschrift wird von einer ehemaligen Bundestagsabgeordneten gestellt, die gerne zur Schule gegangen ist und sich momentan ernsthaft Sorgen um die politische Zukunft unseres Landes macht.

Ich wurde 1961 in Marburg geboren, bin in Wetter als Schülerin mit der dortigen Gesamtschule (ohne eigene Oberstufe) aufgewachsen und in einer sehr politisierten Phase deutscher Geschichte -1977- auf das Gymnasium Philippinum gekommen. Der „Deutsche Herbst“ fiel quasi mit dem Beginn meiner Oberstufenzeit zusammen. Damals war unsere ehrwürdige Schule nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung – es wurde uns auch beigebracht, dass es für schwierige Probleme in der Regel keine einfachen Lösungen gibt und dass die Summe der Einzelinteressen nicht automatisch das Gemeinwohl ist...

Rückblickend kann ich sagen, dass mich von allen Schulfächern der „Leistungskurs Gemeinschaftskunde“ bei Herrn Bauch für mein späteres Leben am stärksten geprägt hat. Hier habe ich gelernt, wie und wo ich mich politisch informieren kann, um mir am Ende eine eigene Meinung zu bilden – inklusive der Fähigkeit, diese dann in Diskussionen überzeugend zu vertreten.

Nach dem Abitur war für mich klar, dass ich etwas Gesellschaftspolitisches studieren möchte und da unsere Gesellschaft stark ökonomisch geprägt ist, habe ich mich für ein Doppelstudium Soziologie und Betriebswirtschaftslehre an der Philipps-Universität Marburg entschieden. Über die Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegung bin ich 1983 zur SPD gekommen. Mit 24 Jahren hatte ich 2 Diplome, 2 Kinder, einen ehemaligen Mitschüler als Ehemann und war mit einer gesellschaftspolitischen Realität konfrontiert, die meine angestrebte Promotion aufgrund fehlender familienunterstützender Infrastruktur unmöglich machte. Auch um diese Situation für mich und viele andere zu verbessern, habe ich mich kommunalpolitisch engagiert und wurde Stadtverordnete in Wetter.

Nach mehreren berufsbedingten Umzügen und 2 weiteren Kindern bin ich 1992 mit meiner Familie ins Münsterland gekommen und über ein Kreistagsmandat mit viel Glück 1999 in den Deutschen Bundestag nachgerückt. Hier war ich 22 Jahre hauptsächlich im Finanzausschuss tätig und zeitweise auch dessen Vorsitzende. Zur Bundestagswahl 2021 habe ich nicht wieder kandidiert, weil meine favorisierte Art Politik zu vermitteln im direkten Dialog lag und liegt und ich die Politikvermittlung über TikTok, Instagram u.ä. jüngeren Politiker-Generationen überlassen wollte. Politik wie ein Konsumgut zu präsentieren, um netzaffine Wählergruppen anzusprechen, lag mir relativ fern – vor allem, wenn es wie in meinem Fachbereich darum ging, Reformen innerhalb der Steuerpolitik zu vermitteln.

Neben vielerlei Verpflichtungen im Wahlkreis hat man als Abgeordnete immer auch direkte Kontaktmöglichkeiten zu Schulen. Die habe ich gerne wahrgenommen und dabei ist mir aufgefallen, dass im Gegensatz zu meiner Schulzeit für viele Schulabgängerinnen und Schulabgänger die vermittelte, neuere deutsche Geschichte inhaltlich mit dem Dritten Reich endete und sie den Systemunterschied zwischen BRD und DDR und die dadurch entstandene Realität nicht ausreichend kannten. Auch das Projekt der Europäischen Union wurde häufig als selbstverständlich angesehen und in seiner historischen Bedeutung nicht ausreichend gewürdigt. Dadurch kann die Gefahr, die durch eine Konzentration auf den Nationalstaat für das europäische Miteinander entsteht, nicht ausreichend wahrgenommen werden.

Als Bundestagsabgeordnete habe ich Lehrerinnen und Lehrer motiviert, die Schulabschlussfahrt – egal in welcher Schulform – in Berlin stattfinden zu lassen. Abgeordnete haben die Möglichkeit, Berlinfahrten als Projekt der politischen Bildung mit Bundesmitteln zu bezuschussen. Das habe ich allerdings immer verbunden mit der Auflage, das Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen zu besichtigen. Hier wird Schülerinnen und Schülern von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen deutlich vermittelt, wie deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger in jüngerer Vergangenheit in einer Diktatur gelebt und gelitten haben. Hier wird klar, dass es nicht selbstverständlich – sondern eher zufällig – war oder ist, in einer freiheitlichen Demokratie zu leben. Ein Besuch dieser Gedenkstätte öffnet vielen Jugendlichen – und uninformierten Erwachsenen – die Augen.

Natürlich müssen Lehrpläne und Lerninhalte in Schulen heute anders aussehen als 1977, aber grundlegende Dinge wie Informationsbeschaffung, -bewertung und -hinterfragung sind immer noch wichtig – vielleicht in Zeiten des Internets und der Künstlichen Intelligenz noch entscheidender.

Ich frage mich ernsthaft, wieso 19% der Erstwähler (13% mehr als 2021) laut Infratest dimap 2025 bei der Bundestagswahl AfD gewählt haben? Also eine Partei, die meiner Meinung nach auf kein Zukunftsproblem der jüngeren Generation eine zielführende Lösung anbietet. Eine Partei, die die Debattenkultur im Bundestag sehr negativ verändert hat und sich nicht nur dort durch verbale Verrohung und Intoleranz auszeichnet. Eine Partei, die die Demokratie als Steigbügelhalter benutzt, um ein anderes politisches System aufzubauen. Zu was stellt diese Partei eine Alternative für junge Menschen dar? Zu unserem Sozialsystem? Zu unserer Familien- und Bildungspolitik? Wie zukunftsfähig ist ein Zurück zu Kohle und Atom? Welche zusätzlichen Perspektiven eröffnen sich jungen Deutschen wirklich, wenn wir weniger ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger haben?

Wie kann es sein, dass in einer Zeit vermeintlich grenzenloser Informationsoptionen viele Wähler nach eigener Aussage erst in der Wahlkabine entscheiden, wo sie ihr Kreuz machen? Auch die Tatsache, dass die zahlenmäßig stärkste Wählergruppe 60 Jahre und älter ist, macht mir Sorgen. Natürlich richten sich Parteien nach ihren Wählergruppen aus, daher war ich immer Verfechterin der Idee „Wahlrecht von Geburt an“, die kurz gesagt Familien zusätzlich Stimmen für ihre Kinder geben würde und damit ca. 14 Mio Menschen unter 18 Jahren bei Wahlen berücksichtigen würde. Ich bin davon überzeugt, dass bei einer solchen Wählerverschiebung alle Parteien gezwungen wären, eine familienfreundliche, zukunftsfähige Politik anzubieten. Des Weiteren würde ich mir dadurch einen stärkeren politischen Diskurs innerhalb von Familien erhoffen. Hier würden pubertierende Jugendliche von ihren Eltern bei der Stimmabgabe vertreten – das würde hoffentlich zu einer innerfamiliären Auseinandersetzung über politischen Themen führen. Ungenügende Befassung mit Politik führt augenblicklich zu einer unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung im Erstwähleralter. Das Projekt „Wahlrecht von Geburt an“ fand leider nie eine parlamentarische Mehrheit – ich habe es gerne mit Schulklassen diskutiert, hier wurde es immer positiv bewertet.

Junge Menschen für Politik zu interessieren und zu begeistern, ist auch eine Aufgabe für gewählte Abgeordnete. Viele Jugendliche sind sehr bereit, sich politisch zu engagieren – dabei geht es allerdings meistens um Projekte außerhalb von Parteiarbeit. Hier hat meines Erachtens die Schule die Möglichkeit, dieses Engagement zu begleiten und im Sinne der Demokratieförderung zu beeinflussen. Natürlich müssen Schulen von den politischen Entscheidern gut ausgestattet werden, muss die universitäre Ausbildung von Pädagogen zeitgemäß angepasst werden, müssen Lehrer – für ihre täglichen Bemühungen, unsere Kinder zu fördern – auch ausreichende Wertschätzung erfahren.

In unserer heutigen Zeit streben viele junge Menschen mehr als je zuvor nach Selbstoptimierung – diese wird ihnen in den sogenannten sozialen Medien auf fragwürdige Weise vorgelebt. Es wäre schön, wenn Schule bei der Verwendung moderner Medien auch Werte für ein erstrebenswertes Zusammenleben vermittel würde – verbunden mit einer Vermittlung der Verantwortung, die jeder Einzelne dadurch hat. Mobbing ist kein neues Phänomen, hat aber durch das Internet viel weitreichendere Auswirkungen als in früheren Jahrzehnten. An dieser Stelle sind Elternhäuser alleine überfordert und für junge Menschen nicht immer wegweisend.

Erziehung im Elternhaus und in der Schule war auch früher nicht optimal und sollte nicht rückblickend verklärt werden – sie war anders in einer anderen Zeit. Aber Schule war früher für die meisten Schüler sehr prägend und sie ist es auch heute. Die Chancen, die darin liegen, gilt es möglichst gut zu nutzen – nicht nur für den Erhalt unserer Demokratie, aber auch dafür.